Was beweisen Urkunden? Die Frage ist erstaunlich selten bislang gestellt worden. Das ist unserem Kollegen Gubitz deutlich vor Augen geführt worden beim Mittagessen, eingenommen mit den Kolleg:innen der Kanzlei. Björn Elberling (öffnet in neuem Tab) berichtete von einem Verfahren, in dem sich Folgendes zugetragen hatte: Der Staatsschutzsenat des OLG Koblenz verhandelte wegen des Vorwurfs einer Beihilfe und klärte zunächst nur auf, ob er diese Beihilfehandlung nachweisen kann. Zur Aufklärung der Haupttat wiederum sollte nur das Urteil gegen den Haupttäter und ein „Ablaufvermerk“ der Polizei verlesen werden. Geht das? Beweist ein Urteil in anderer Sache das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts? Kann das dann durch Verlesung eingeführt und einer Verurteilung eines Anderen, hier des mutmaßlichen Gehilfen, zugrunde gelegt werden?
Treuen Bloglesern wird das Sujet bekannt vorkommen – es war hier schon Gegenstand, weil unser Kollege Gubitz hierüber im letzten Jahr bereits einen Vortrag dazu gehalten hat. Dieser wurde nun, erheblich aufgebohrt vom geschätzten Kollegen Privatdozent Dr. Oliver Harry Gerson, zu einer Veröffentlichung in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht (öffnet in neuem Tab).
Exemplarische Fragen zum Beweiswert von Urkunden lauten:
👉es gibt doch Kategorisierungen von Urkunden – helfen die bei der Bestimmung des Beweiswertes?
👉 was soll der Beweiswert ergänzender Urkundenverlesungen nach § 253 StPO sein?
👉 §§ 250 S. 2 und 244 Abs. 2 StPO: ist die Vernehmung immer das unmittelbare Beweismittel?
👉 beim Zeugenbeweis, etwa in den Konstellationen von „Aussage gegen Aussage“, gibt es so etwas wie Beweisregeln – sollte das dann nicht auch für das vergleichsweise weniger komplexe Beweismittel Urkunde möglich sein?

Hier eine kleine Inhaltsangabe:
Nahezu alles, was Buchstaben enthält, darf im Verfahren auch als Urkunde verlesen werden. Weder braucht man bei der Verlesung zu wissen, von wem die Urkunde herrührt, noch, ob es sich um ein Original oder eine Kopie handelt. Die mitunter fragwürdige Authentizität bzw. Integrität einer Urkunde ist nach der h.M. als Frage der Bestimmung des Beweiswerts erst im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 261 StPO zu berücksichtigen.
Das erscheint schon auf den ersten Blick als ein Zuviel an Freiheit innerhalb der freien richterlichen Würdigung. Der Beitrag geht daher der Überlegung nach, ob sich aus den unterschiedlichen Herkünften der Urkunden, der Vielzahl an denkbaren Urhebern und den unterschiedlichen Formaten nicht eine Kategorisierung für die Beweiswertbestimmung deduzieren lässt. Damit wird Neuland betreten: Es finden sich bislang an keiner Stelle dezidierte Ausführungen zum etwaig unterschiedlichen Beweiswert der diversen Typen von Urkunden.
Im Ergebnis lässt sich Folgendes festhalten: Der Beweiswert von Urkunden muss im Einzelfall, ausgehend vom Urkundentyp, sorgfältig analysiert werden:
Absichtsurkunden weisen i.d.R. einen hohen Beweiswert auf, da sie gezielt zu Beweiszwecken erstellt wurden und häufig durch formelle Anforderungen besonders abgesichert sind. Sie genießen zudem häufig eine gesetzliche Vermutung ihrer Echtheit und Richtigkeit (z.B. gem. § 415 ZPO).
Berichtsurkunden weisen einen extrem einzelfallabhängigen Beweiswert auf, der erheblich von der Neutralität und Kompetenz der Erstellenden sowie der Objektivität der enthaltenen Informationen abhängt.
Konstitutivurkunden weisen einen hohen Beweiswert in Bezug auf die Begründung oder Gestaltung von Rechtsverhältnissen auf. Ihre Bedeutung hängt von ihrer Echtheit und den gesetzlichen Formvorschriften sowie von der Zuordenbarkeit gegenüber dem Ersteller ab.
Zufallsurkunden wie handschriftliche Notizen oder SMS/Chat-Nachrichten können einen hohen Beweiswert aufweisen, sofern ihre Authentizität und inhaltliche Relevanz glaubhaft sind. Dies muss jedoch erst durch zusätzliche Beweismittel abgesichert werden.
Was folgt daraus für die Praxis? Gerichte dürfen keinesfalls pauschal und ungeprüft einen hohen Beweiswert von Urkunden unterstellen. Die Verteidigung sollte gezielt die Richtigkeit und Vollständigkeit von Urkunden hinterfragen. Speziell bei Berichtsurkunden ist das kritische Explorieren ihrer Entstehung und ihres Inhalts somit Pflicht. Beweisanträge müssen klar erkennen lassen, welche Tatsachen eine Urkunde belegen soll und die Gründe nennen, aus denen gerade diese konkrete Urkunde das auch leisten kann.
Und ganz grundsätzlich gilt: Es existiert ebenso wenig „die“ Urkunde, wie es „den“ Zeugen gibt!